Professor Hans Peter Dietz klagt an: Mehr denn je, so kritisiert der Spezialist für Beckenbodenschäden an der Universität in Sidney, sei die Geburtshilfe von Ideologie dominiert. Wie zuletzt das Morecambe Bay Desaster gezeigt habe, würde die natürliche Geburt über alles gestellt – koste es buchstäblich, was es wolle. Verblendet von der Vorstellung, Kaiserschnitte um jeden Preis – auch den des Lebens und der Gesundheit von Kindern und Müttern – verhindern zu wollen, hatten Hebammen jahrelang die Geburtshilfe einer großen englischen Klinik beherrscht. Der schonungslose Bericht darüber ist letztes Jahr veröffentlicht worden (siehe dazu hier den Blog vom 13. Juli 2016). Der nationale Gesundheitsdienst in England (National Health Service oder NHS) sah sich zum Handeln gezwungen und gab einen “Better Birth Report” heraus. Wird der die Dinge zum Besseren wenden? Vermutlich nicht, urteilt der Experte Dietz in einem Fachjournal für Geburtshilfe.

Obwohl gerade die strikte Vermeidung von Interventionen – damit ist das Eingreifen in den Geburtsverlauf gemeint, von der rückenmarksnahen, örtlichen Betäubung oder PDA, über den Dammschnitt bis zum Kaiserschnitt – erst zum Morecambe Desaster geführt hatte, fordert der neue Report abermals eine weitgehende Zurückhaltung in Sachen Interventionen. Aus Protest vor der erneuten Bestärkung des Mantras “nur eine natürliche Geburt ist eine gute Geburt” verließ der Vater eines der geschädigten Morecambe-Opfer die Kommission, die den Report erarbeiten sollte.

Dietz erklärt, dass das vorgebliche Verlangen der Frauen nach mehr Hausgeburten und mehr Betreuung durch Hebammen eine Folge der Tatsache sei, dass die Hebammen die Frauen die ganze Schwangerschaft über in diese Richtung beeinflussten. Der Berufstand ist für die Schwangeren eine der wichtigsten Informationsquellen. Sie bieten Geburtsvorbereitungskurse an, die fast jede Schwangere besucht. Dort hört sie in aller Regel, dass eine Geburt etwas ganz natürliches sei, dass man eigentlich keine Interventionen benötige, einen Arzt schon gar nicht und ein Kaiserschnitt ist sowieso nur ein letzter Rettungsanker für die Versagerinnen.

Niemand, so der Vorwurf von Dietz, spreche über ernsthafte und nicht so seltene Risiken wie Dammrisse bis hin zum Abriss von Schamlippen und Einriss des Enddarmschließmuskels. Dass der “Tragemuskel” des Beckenbodens, der Levator ani, bei einer Geburt aus seiner knöchernen Verankerung reißen kann und damit Inkontinenz und Vorfälle von Beckenorganen durch die Scheide nach außen begünstigen kann, ist nicht Thema im Geburtsvorbereitungskurs. Erläutert wird auch nicht, wie hoch das Risiko für Saugglocken- und Zangengeburten ist und wie der Geburtskanal durch solche Manipulationen Schaden nehmen kann. Was zu große und zu schwere Kinder unter der Geburt für eine Herausforderung sind, erzählt den Frauen niemand. Dies kommt inzwischen bei den immer älteren, häufiger übergewichtigen oder adipösen Erstgebärenden häufiger vor, als das viele Hebammen und Geburtshelfer zugeben möchten.

Dies alles würde den Frauen Angst machen, wehren die Schönfärber ab. Aber eine solche Haltung sei paternalistisch, urteilt Dietz. Und es ist auch nicht mehr zeitgemäß, geradezu verpönt: Jeder Mann wird minutiös über die vielen Risiken einer Prostataoperation aufgeklärt, jeder Frau genauso über alles, was ihr bei einer Brustkrebsoperation droht, jeder Patient muss wissen, was ihm alles bei den unterschiedlichsten Eingriffen widerfahren kann, aber vor einer Geburt gilt die Devise: Beruhigen bis an die Grenze des Verheimlichens.

Wenig eingreifen sei eine Losung, die man nicht mehr rechtfertigen könne, wenn der Preis dafür gesundheitliche Schäden seien, mahnt der Urogynäkologe Dietz. Das Kind kann gesundheitliche Schäden infolge einer verzögerten Geburt davontragen, auch ein – zu – später Notkaiserschnitt birgt um Größenordnungen mehr Risiken als ein Kaiserschnitt, zu dem man sich im Zweifel rechtzeitig und deutlich früher entschieden hat. Auch für die Mütter drohen Gefahren, seien es Beckenbodenverletzungen oder auch Uterusatonien, das sind schwere Blutungen der Gebärmutter, die immer dann zu fürchten sind, wenn die sich völlig erschöpft hat und nach einer Geburt nicht mehr zusammenziehen kann.

Nachdem in Großbritannien der oberste Gerichtshof eine Geburt nun als “Verfahren” definiert habe, über dessen Vor- und Nachteile man die Schwangere ebenso aufkären müsse wie bei einer Operation, könne man sich nicht damit herausreden, dass die natürliche Geburt eben das Gegebene sei. Die Zeiten, als man nur über die Risiken eines Kaiserschnittes aufklärte, aber so tat, als gäbe es keine Risiken der natürlichen Geburt, seien eben vorbei, so das Fazit des Spezialisten. Im Zuge von juristischen Konsequenzen, die es für Hebammen und Ärzte haben könne, wenn sie solche Aufklärungspflichten nicht ernst nähmen, so warnt Dietz, würde die Anti-Kaiserschnitt-Ideologie für Hebammen und Geburtshelfer ebenso gefährlich wie für die Mütter und deren Ungeborene.

Quellen:

1. Dietz HP: Women and babies need protection from the dangers of normal birth ideology. FOR: The recent maternity review risks making the situation even worse. Debate in: BJOG 2017; 124(9):1384 https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/1471-0528.14666/full

2. Dietz HP, Exton L: Natural childbirth ideology is endangering women and babies. Aust N Z J Obstet Gynaecol 2016;56(5):447-449
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/27677435