Wenn der Wind heftiger weht, muss man sich dagegen stemmen. Immer mehr Frauen geben sich nicht mit Beschwichtigungen zufrieden, beklagen ihre Geburtsverletzungen und fragen ihre Hebammen, warum sie nach der Geburt inkontinent sind, den Urin nicht mehr halten können oder sonstige Schäden am Beckenboden davon getragen haben. Das schafft Erklärungsnotstand, denn die Inkontinenz als Folge einer vaginalen Geburt und Schwächung des Beckenbodens ist wissenschaftlich gut belegt. Aber die Hebammen halten dagegen: Eine Leserin meines Blogs machte mich auf eine interessante Mitteilung des Hebammenverbandes in Baden-Württemberg aufmerksam. Dort steht unter der Überschrift: “Drohgebärde Inkontinenz”, dass eine Vermeidung von Inkontinenz als Vorteil für die Wahl eines Kaiserschnitts als Geburtsmodus von der Presse nicht hervorgehoben werden sollte. Warum nicht: Weil Inkontinenz als Folge der vaginalen (“natürlichen”) Geburt heute kein Thema mehr sei. Wirklich?

Vermehrt “spuke” durch die Medien eine Verbreitung der Angst vor Inkontinenz, um dem Kaiserschnitt etwas Positives abzugewinnen. Der Erfahrungsschatz der Hebammen will es besser wissen. Früher, ja früher da haben die Frauen noch lange in der Schwangerschaft körperliche Schwerstarbeit geleistet, sind viel gestanden (daher hätte es auch früher viele “offene Beine” gegeben, heute kaum noch), haben einmal im Jahr geboren, zehn Geburten seien keine Seltenheit gewesen, das sei die Ursache von schlaffen Beckenböden gewesen. Heute, ja heute sei es doch alles viel besser: “Wir Frauen” seien allein durch mehr Sport mit “mehr körperlicher Spannkraft ausgestattet”. Unser beruflicher Alltag habe nichts von der Härte der früheren Jahrhunderte. Auf die Geburt selbst werde unser Beckenboden gut vorbereitet mit Gymnastik, durch Rückbildung werde er wieder trainiert.

Selten liest man so viele Fehler in einer Meldung. Die Beckenbodenschwäche und Inkontinenz nach vaginaler Geburt ist nachweislich höher als bei Frauen, die per Kaiserschnitt entbinden – ganz unabhängig von Sport und Spannkraft und Schwerstarbeit. Klare Risikofaktoren sind Alter, Größe (unter 160 cm) und Gewicht des Kindes (über 4000g) – das ist hier im Blog und auf den Folien meines Vortrages in Ulm (siehe Blogbeitrag hier auf dieser Seite unter: Ein Plädoyer für die Aufklärung: Schäden am Beckenboden nach einer natürlichen Geburt von | 20.Jul.2019) zur Genüge belegt. Was wir wirklich wissen ist, dass Frauen früher in jüngeren Jahren entbunden haben und vor Beckenbodenschäden mit Muskelabrissen wegen der höheren Elastizität des jungen Gewebes sogar eher geschützt waren: In Nepal, wo früher die Frauen oft schon vor einem Alter von 20 Jahren ihre erstes Kind bekamen, haben diese Frauen so gut wie keine Senkungen. Heute sind Frauen indes häufig über 30, viele auch schon über 35, wenn sie ihr erstes Kind bekommen. Da kann man noch so viel ins Fitnessstudio gehen, elastischer werden den Fasern davon nicht. Ebenso, wie man Falten bekommt, lässt die Elastizität des Beckenbodens nach. Verletzungen sind daher häufiger und die vielen Geburten in späten Jahren gehen unweigerlich mit einer Steigerung von Beckenbodenschäden, auch Inkontinenz, einher.

Noch zur Arbeit: Früher war nicht alles Schwerstarbeit, aber die Frauen waren fit, trainiert, häufiger normalgewichtig, sie bewegten sich weit mehr als heute und saßen nicht so oft auf einem Bürostuhl. Sitzende Tätigkeit im Verbund mit Übergewicht ist ein Nährboden für Verstopfung und ein Risikofaktor für Beckenbodenschäden, die von Jahr zu Jahr zunehmen. Wie man angesichts der steigenden Verkäufe von Windeln und netter genannten Inkontinenzhilfen für Frauen, angesichts der Tena- und sonstiger Werbung im Internet und im Fernsehen für Netzhöschen und Windelslip, überhaupt meinen könnte, man könnte Frauen die Botschaft verkaufen, Inkontinenz spiele heute keine Rolle mehr als Folge von vaginalen Geburten, muss das Geheimnis des Hebammenverbandes in Baden-Württemberg bleiben.

Diese Mitteilung muss als das genommen werden, was es ist: Ein Indiz für den Versuch, sich verbissen gegen die Realität zu stemmen. Gegen die Realität, dass vaginale Geburten eben auch erhebliche Risiken für den Beckenboden von vielen Frauen bergen. Das zu negieren heißt nur: Es wird immer mehr Opfer geben, diese werden immer öfter rebellieren, sie werden sich fragen, warum ihnen Hebammen das nicht schon längst vorher erzählt haben, warum all dieses unter der Decke gehalten werden soll. Die Schwangeren werden ihr Vertrauen verlieren, denn im Ernst: Wenn eine Mutter diese Mitteilung liest und dann nach einer Geburt Urin verliert, wenn sie ihre Baby hebt, wer wird dann nicht enttäuscht sein und bei der nächsten Geburt mit höchster Skepsis die Aussagen von Hebammen bewerten. Mehr Ehrlichkeit täte Not, die Zeit der billigen Ausreden sollte vorbei sein.

Quelle: http://www.hebammen-bw.de/wp-content/uploads/2.4.5_180307_Inkontinenz_Kaiserschnitt_Studie_Edinburgh.pdf