Viele Frauen melden sich über das Kontaktformular dieses Blogs bei mir, wenn Sie vor ihrer Geburt Bedenken bekommen. Sie lesen von Risiken für ihr Baby und für sich selbst, sie haben von Freundinnen, von ihrer Mutter oder Tanten gehört, dass eine natürliche Geburt nicht immer so ideal verläuft, wie das an den Informationsabenden der Kliniken geschildert wird. Dann möchten Sie mit Arzt/Ärztin und Hebamme im Geburtsvorbereitungsgespräch ihre Bedenken vortragen und fragen, ob womöglich Vorsicht geboten sei. In vielen Fällen werden ihre Befürchtungen nicht ernst genommen, sie werden abgebügelt, oft heißt es: “Sie haben Angst, das ist verständlich, aber die Angst lässt sich weg therapieren”. Im Nullkommanichts haben sie eine Überweisung für Psychotherapie in der Hand. Vorsichtige Schwangere, die Bedenken anmelden, werden damit zu neurotischen Zicken, deren überängstliche Psyche man ein wenig aufpäppeln muss.

Nun, dann sollte man Argumente haben – und hier sind sie. Ich mache hier auf eine Veröffentlichung aufmerksam, die einer Vielzahl von Schwangeren Recht gibt. Ein Papier, das eigentlich sogar Frauenärzte, Ärztinnen und Hebammen dazu zwingt, die Schwangeren über ihre erhöhten Risiken aufzuklären. Es ist ein offizielles Statement, von deutschen Experten verfasst – ein erster, wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Es erschien, das freut mich doch immens, einige Zeit, nachdem ich im Deutschen Ärzteblatt meinen Appell “Besser als bisher über Risiken vaginaler Geburten aufklären” veröffentlicht hatte.

Damals war mein Artikel zunächst vielen Experten ein Dorn im Auge. Stellte er doch einen Aufruf an die Frauenärzte dar, den Schwangeren rechtzeitig mehr über die Unwägbarkeiten und Langzeitschäden einer natürlichen Geburt zu erzählen. Viele Geburtshelfer und Hebammen mussten befürchteten, die Frauen würden sie mit kritischen Fragen überhäufen und das Mantra “natürlich gebären ist immer am besten” würde zu sehr unter die Lupe genommen, wenn man besser über die Risiken einer natürlichen Geburt für den Beckenboden Bescheid weiß. Auf einem Kongress, so wurde mir zugetragen, wurde mein Artikel explizit massiv kritisiert. Nun, es freut mich, dass die Szene offenbar aufgemischt wurde, denn das Resultat sind immer öfter kritische Berichte über Geburtsschäden. Vor allem ein Beitrag der Deutschen Presseagentur dpa, der meinen Artikel als Anlass für einen Bericht nahm, fand weite Verbreitung.

Viel wichtiger ist indes, dass wenige Monate nach Erscheinen meines Artikels im Deutschen Ärzteblatt gleich von drei offiziellen deutschen Organisationen, nämlich von der Arbeitsgemeinschaft Urogynäkologie und plastische Beckenbodenrekonstruktion (AGUB), der Arbeitsgemeinschaft für Geburtshilfe und Pränatalmedizin (AGG) und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) ein Statement verfasst worden ist, dass als Grundlage einer Beratung der Schwangeren viel Sprengstoff birgt.

Darin wird Folgendes festgehalten:

“Wissenschaftlich gesichert ist eine erhöhte Prävalenz (ein erhöhtes Vorkommen) von Harninkontinenz und Deszensus genitalis (Vorfall/Senkung von Genitalorganen) für Frauen mit”:

  • einer Körpergröße von weniger als 160 cm
  • einem Kindsgewicht von mehr als 4000g
  • einem Alter von > 35 Jahre und
  • dem Vorliegen von Beckenbodenerkrankungen in der Familie

Der “protektive”, also schützende Effekt eines Kaiserschnittes sei für eine Patientin ohne Risiko marginal (klein, aber immerhin noch vorhanden, so muss man das lesen). Aber dann wird folgendes zugegeben: Bei einer “Hochrisikopatientin kann die Sectio (Kaiserschnitt) aber durchaus (!) zu einer deutlichen (!) Reduktion des Risikos für eine Beckenbodenschädigung führen”.

Das lassen wir mal wirken. Damit sagen die führenden Fachgesellschaften der Frauenheilkunde und Geburtshilfe, wer gefährdet ist. Jetzt haben die Schwangeren wirklich etwas in der Hand. Das heißt nämlich, dass ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Aufsatzes in der Fachzeitschrift “Der Frauenarzt” jede Frau – und jeder Rechtsanwalt – reklamieren kann, dass man (frau = Schwangere) über diese Gefahr hätte aufgeklärt werden müssen. Und vor allem über die Alternative hätte aufgeklärt werden müssen. Und vor allem in der Geburtsklinik ein Augenmerk auf diese Frauen gehört, wenn man trotz aller Risiken eine natürliche Geburt riskiert, diese lang und beschwerlich und ohne guten Fortgang verläuft und der verantwortliche Geburtshelfer – sei dies die Hebamme oder ein Arzt – nicht rechtzeitig die Notbremse zieht. Dieses Papier ist ein Dokument, mit dem sich besser arbeiten lässt, als vielleicht auf den ersten Blick angesichts des Publikationsortes und der geringen Beachtung in der Fachwelt vermuten lässt. Daher möchte ich es hier noch einmal ausdrücklich betonen, nachdem ich inzwischen selbst Gutachten für betroffene Frauen geschrieben habe: Mangelnde Aufklärung über diese Risikofaktoren kommt in Zukunft die Kliniken, die Ärzte und Ärztinnen und die Hebammen teuer zu stehen: Ab Frühjahr 2019 steht es schwarz auf weiß geschrieben, welche Frauen aus medizinischer Sicht sicher gefährdet sind. Das Papier hält ausdrücklich fest, dass das Ziel eine “individualisierte und spezifische Beratung” sein sollte. Es heißt in dem Artikel wörtlich: “Auf diese Weise erhalten die Frauen, bei denen es im späteren Leben zu einer signifikanten Beckenbodenfunktionsstörung kommen könnte, eine Option, sich über die elektive Sectio (den geplanten Kaiserschnitt) ! beraten zu lassen”.

Ich bin mir nicht sicher, ob sich die Autoren über den Sprengsatz, den sie damit gelegt haben, wirklich im Klaren sind. Aber das sei dahingestellt, denn das Papier ist nur zu begrüßen – denn es wird nicht wenige Frauen betreffen, die Anspruch auf Aufklärung haben. Wer sich hier auf dem Blog durch meinen Fortbildungsbeitrag in Ulm vom 13. Juli 2019 klickt (Ein Plädoyer für die Aufklärung: Schäden am Beckenboden nach einer natürlichen Geburt), der findet auf Folie 15, dass es immer mehr ältere Erstgebärende gibt, die folglich Anspruch auf Aufklärung über ihr erhöhtes Risiko haben: 2017 – also vor drei Jahren – waren von gut 780000 Geburten 250000 der Schwangeren älter als 34 Jahre. Was heißt, dass zum Risikokollektiv der über 35jährigen mindestens ein Viertel, fast sogar ein Drittel aller Schwangeren zählen – denn von 34 bis 35 ist es nicht weit.Zudem erreichte schon vor einem Jahrzehnt in Deutschland jedes 10. Kind ein Geburtsgewicht über 4000g. In den USA sind es längst viel mehr, hier vermutlich auch, denn auch Übergewicht der Mütter und Schwangerschaftsdiabetes, alles Risikofaktoren, die zu schweren Kindern beitragen, nehmen seit Jahren deutlich zu. Und das Gewicht muss ja geschätzt werden, das heißt: Überall dann, wenn das Kind nur vermutlich so viel wiegen wird, muss man darüber sprechen.

Hinzu kommen noch all jene werdenden Mütter, die kleiner als 1,6 m sind. Dieses Risikokollektiv ist also nicht klein. Das heißt, all diese Schwangeren müssten aufgeklärt werden, man muss sie darauf ansprechen, dass ihrem Beckenboden höchstwahrscheinlich Schäden drohen, man muss über die Alternativen sprechen. Wenn das nicht geschieht, sind die Juristen am Zug. Gute Argumente liefert der Medizinfachanwalt Roland Uphoff in seinem Artikel in der Fachzeitschrift “Der Gynäkologe” (siehe unten bei den Quellenangaben, das PDF ist verlinkt).

Dies schreibe ich hier, um auch jenen, die sich nicht bei mir melden und keine Beratung erhalten, Argumente an die Hand zu geben, damit sie beim Geburtsvorbereitungsgespräch nicht vertröstet werden, damit ihre Bedenken nicht abgewiesen werden, damit sie klar sehen, dass ein Recht auf eine alternative Geburt besteht, wenn die Risiken für die Mutter zu hoch sind. Drucken Sie sich diesen Artikel aus und nehmen Sie das mit in die Klinik. Konfrontieren Sie die Berater mit Ihren Fragen. Fordern Sie Ihr Recht auf evidenzbasierte Aufklärung ein!

Quellen:

  1. Lenzen-Schulte M: Beckenbodenschäden: Besser als bisher über Risiken vaginaler Geburten aufklären. Medizinreport. Deutsches Ärzteblatt 2018; 115(45): A-2062 / B-1716 / C-1693 https://www.aerzteblatt.de/archiv/202437/Beckenbodenschaeden-Besser-als-bisher-ueber-Risiken-vaginaler-Geburten-aufklaeren
  2. Gabriel B, Baeßler K, Peschers U, et al.: Vaginale Geburt und Veränderungen am weiblichen Beckenboden. Stellungnahme von AGUB, AGGG und DGGG. Der Frauenarzt 2019;60(4):266-267. Stellungnahme von AGUB, AGG und DGGG: Vaginale Geburt und Veränderungen am weiblichen Beckenboden Die Arbeitsgemeinschaft Urogynäkologie und plastische Beckenbodenrekonstruktion (AGUB), die Arbeitsgemeinschaft für Geburtshilfe und Pränatalmedizin (AGG) und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) haben zum Thema vaginale Geburt und Veränderungen am weiblichen Beckenboden ein Statement erarbeitet, das im Folgenden wiedergegeben wird.
  3. Uphoff R: Aufklärung über die Risiken einer natürlichen Geburt. Der Gynäkologe 2019; 52:542-546.https://www.uphoff.de/wp-content/uploads/2019-08_gynaekologe_aufklaerung-ueber-risiken-natuerlicher-geburt.pdf