Wer kennt sie nicht, die angebliche Obergrenze der WHO in Sachen Kaiserschnitt. Jeder, der überzeugt ist, ein Kaiserschnitt sei von Übel und man müsse die Rate – koste es, was es wolle – senken, zitiert diese unseligen 15%. Nicht mehr als 15% der Kinder sollten per Kaiserschnitt zu Welt kommen, so fordere es die WHO – das wird oft unkritisch in Fach- oder Frauenzeitschriften nachgeplappert. Das haben Experten international schon lange als unsinnig entlarvt, aber endlich gilt dies auch in Deutschland offiziell als Blödsinn. Denn die Leitlinie Kaiserschnitt hat diese Grenze nun verneint, wie im Deutschen Ärzteblatt nachzulesen ist: “Die Vorgabe einer spezifischen Sectiorate sei nicht Bestandteil dieser Leitlinie, schreiben die Autoren. Aufgrund fehlender Daten zur mütterlichen und kindlichen Morbidität sei derzeit keine zuverlässige Aussage über eine optimale Rate möglich. Die von der WHO im Jahr 1985 formulierte Grenze von 10 bis 15 Prozent wurde in einem WHO-Statement im Jahr 2015 aus eben diesem Grund relativiert- nachzulesen hier: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113736/Erste-S3-Leitlinie-zum-Kaiserschnitt-soll-Entscheidung-fuer-Geburtsmodus-erleichtern

Jeder, dem in Foren diese Zahl genannt wird, die gerne als eine Art Bannstrahl gegen die hohen Kaiserschnittraten genutzt wird, kann man also jetzt den Link im Ärzteblatt entgegenhalten. Wer darüber hinaus noch Fakten benötigt, die liefere ich hier dazu.

Noch in einer im Jahr 2018 veröffentlichten Pressemitteilung zu einer Serie im Fachjournal Lancet hieß es lapidar – quasi ohne nachzudenken: Es wird geschätzt, dass 10-15% der Geburten aus medizinischer Indikation erfordern – etwa wegen Komplikationen. Daher sollte die durchschnittliche Rate ungefähr zwischen diesen Margen liegen („It is estimated that 10-15% of births medically require a C-section due to complications, suggesting that average C-sectio use schould lie between these levels.“ (1). Also selbst im Lancet haben solche Ewiggestrigen noch nicht kapiert, was sie da unbesehen abschreiben.

Denn Evidenz für diese Obergrenze gibt es schon lange nicht mehr. Es ist nicht möglich, heute noch für alle 194 WHO Mitgliederländer oder weltweit eine Obergrenze zu formulieren, die auf ein Statement von vor 30 Jahren zurückgeht? Diese Grenzen wurden schon debattiert, als sie frisch formuliert waren. Experten fordern, dass nicht eine fiktive Obergrenze gültig sein soll, sondern jene Mütter, die einen Kaiserschnitt benötigen, ihn auch bekommen – und dass Frauen dabei mitentscheiden können sollen (2,3). Das ist gerade das Gegenteil von festen Obergrenzen.

Seit der ersten Äußerung der WHO zu diesen 15 % hat sich die Demografie der Mütterkohorte der Erstgebärenden dramatisch verändert. Der Hauptvorhersagefaktor für eine unkomplizierte vaginale Geburt in “low-risk” Kollektiven von Schwangeren ist das mütterliche Alter; ein Faktor, der weltweit beständig gestiegen ist. Erstgebärende sind inzwischen in Europa 30 Jahre im Durchschnitt – noch in den 1970er Jahren lag dieser Durchschnittswert bei 25 Jahren (4).

Auch der Gesundheitszustand der Schwangeren hat sich seither zunehmend verändert. Die meisten Frauen, die unter chronischen Erkrankungen leiden, sind früher früh verstorben oder es galt als unvernünftig bis unmöglich, dass sie Nachwuchs bekommen. Aber inzwischen hat sich das geändert: Die meisten Frauen mit angeborenen Herzfehlern und chronischen Herzkrankheiten leben länger als bis zum Alter von 18 Jahren – eine bemerkenswerte Steigerung, die inzwischen in den USA eine Gruppe von mehr als 1 Million Menschen mit  kongenitalen, angeborenen Herzfehlern ausmacht (5,6). Das gilt auch für Frauen mit zystischer Fibrose (Mukoviszidose), Typ-1-Diabetes oder jene Patienten, die nach einer Organtransplantation oder nach der Therapie eines bösartigen Tumors ihren Kinderwunsch erfüllt sehen möchten (7-9). Sie alle benötigen nicht nur genaue Überwachung der Schwangerschaft, mitunter können sie zum Beispiel wegen der Belastung für das Herz oder die Atmung auch nur per Kaiserschnitt ein Kind sicher auf die Welt bringen. Kaiserschnittraten müssen solche Veränderungen berücksichtigen und dürfen nicht jahrzehntelang statisch formuliert werden.

Unabhängig davon kommen immer mehr Kinder zur Welt, die mittels künstlicher Befruchtung (Assisted reproductive technologies (ART)) gezeugt worden sind. Ganz zweifellos erkennen Geburtshelfer und andere Experten an, dass hier ein größeres Risiko unter der Geburt besteht, weil es öfter zur Präeklampsie oder zu Krampfanfällen der Mutter kommt, weil die Kinder eher eine Gehirnblutung erleiden oder andere Gefährdungen drohen. Diese Umstände sind ebenfalls ein Treiber der Kaiserschnittrate, auch, weil die Mütter nach künstlicher Befruchtung oft ältere Erstgebärende sind (10-12). Nicht zu übersehen ist die hohe Rate an Schwangerschaftsdiabetes, unter dem in einigen Ländern schon jede zehnte Schwangere leidet. Deren Kaiserschnittrate ist doppelt so hoch wie die der Mütter, deren Zuckerstoffwechsel stabil ist (13). Und schließlich tragen die hohen Raten an Übergewicht unter den Schwangeren zu der steigenden Kaiserschnittrate bei (14).  Dies allein zeigt schon, dass viel mehr medizinische Indikationen für einen Kaiserschnitt gegeben sind, als noch vor 30 Jahren.

Zudem ist zu berücksichtigen, dass wir nicht mehr nur über Sterblichkeit (Mortalität) sprechen, sondern über Komplikationen und Krankheit (Morbidität), die mit schwierigen Geburten einhergehen können. Es geht auch um Sicherheit und Lebensqualität, nicht nur darum, dass Mutter und Kind irgendwie da durchkommen.

Inzwischen ist es nicht mehr so egal wie vor Jahrzehnten, ob eine Mutter mit unversehrtem Beckenboden aus einer Geburt hervorgeht oder nicht. Langfristige Gesundheit von Müttern ist nicht zu haben, wenn sie ihren Stuhl verlieren, den Urin nicht mehr halten können, wenn ihre Scheide verkürzt und erweitert ist und wenn die Gebärmutter nach unten drückt und womöglich beim Verkehr mit dem Partner an dessen Penis stößt. Diese gesundheitlichen Folgen sind bei manchen Risikopatientinnen klar mit dem Geburtsmodus assoziiert (15-19). Will man diesen Frauen mit starren Obergrenzen verwehren, ein gesundes Leben zu führen?

Weit weniger Frauen, als man gemeinhin denkt – einer Studie zufolge 33 to 40% – gehen ohne jeglichen Schaden aus einer vaginalen Geburt hervor (20). Manche Scores, Risikorechner, können schon teilweise vorhersagen, welche Frau vermutlich mit unversehrtem Beckenboden durchkommt und welche Schaden nehmen wird (21, 22). Das sind weit bessere Methoden, Leid zu vermeiden, als fixe Obergrenzen für die einzige Alternative zur vaginalen Geburt.

Wer jetzt noch als Advokat einer natürlichen Geburt die WHO-Zahl von 15% Kaiserschnittraten zitiert, outet sich als uninformiert und nicht auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Evidenz. Wir können hier Professor Baha M. Sibai von der University of Texas in Houston zitieren: Auf der Jahrestagung des American College der Geburtshelfer und Frauenärzte 2018 hielt er fest, dass der Anstieg der Kaiserschnittrate “angemessen” und “notwendig” war, eben weil es mehr von jenen Schwangerschaften gibt, die für Mutter und Kind ein Risiko bedeuten. Er sagte: “Wir wollen keine Zielwerte für die Kaiserschnittrate, wir wollen gesunde Mütter und gesunde Kinder”.  

Quellen:

  1. Series: Optimising Caesarean Section Use. The Lancet 2018;392(10155):1341-1348.
  2. Robson SJ, de Costa CM: Thirty years of the World Health Organization’s target caesarean section rate: time to move on. Med J Aust 2017 Mar 6;206(4):181-185.
  3. Dietz HP, Peek MJ: Will there ever be an end to the Caesarean section rate debate?Australian and New Zealand Journal of Obstetrics and Gynaecology 2004; 44: 103–106.
  4. Weltbevölkerungsbericht 2018: https://www.dsw.org/wp-content/uploads/2018/10/SWOP-2018_final_web-50.pdf
  5. Greutmann M, Pieper PG: Pregnancy in women with congenital heart disease. European Heart Journal 2015; 36(37):2491–2499.
  6. Stout K: Pregnancy in women with congenital heart disease: the importance of evaluation and counselling. Heart 2005 Jun; 91(6): 713–714.
  7. Reynaud Q, Poupon-Bourdy S, Rabilloud M, et al.: Pregnancy outcome in women with cystic fibrosis-related diabetes. Acta Obstet Gynecol Scand. 2017 Oct;96(10):1223-1227.
  8. Tang M, Webber K: Fertility and pregnancy in cancer survivors. Obstet Med. 2018 Sep;11(3):110-115.
  9. Lin CH, Chang SN, Chen CH: A Nationwide Study on Outcomes for the Offspring of Renal Transplant Recipients in Taiwan.Transplant Proc. 2018 Oct;50(8):2469-2472.
  10. Kawwass JF, Badell ML: Maternal and Fetal Risk Associated With Assisted Reproductive Technology. Obstet Gynecol. 2018 Sep;132(3):763-772.
  11. Simopoulou M, Sfakianoudis K, Tsioulou P, et al.: Risks in Surrogacy Considering the Embryo: From the Preimplantation to the Gestational and Neonatal Period. Biomed Res Int. 2018 Jul 17;2018:6287507.
  12. Boria F, de la Calle M, Cuerva M, et al.: Risk of pre-eclampsia after fresh or frozen embryo transfer in patients undergoing oocyte donation. J Matern Fetal Neonatal Med. 2018 Oct 8:1-91.
  13. Mañé L, Flores-Le Roux JA, Benaiges D, et al: Impact of overt diabetes diagnosed in pregnancy in a multi-ethnic cohort in Spain. Gynecol Endocrinol. 2018 Oct 17:1-5.
  14. Yang Z, Phung H, Freebairn L, et al.: Contribution of maternal overweight and obesity to the occurrence of adverse pregnancy outcomes. Aust N Z J Obstet Gynaecol. 2018 Jul 19. doi: 10.1111/ajo.12866.
  15. Gyhagen M, Bullarbo M, Nielsen TF, et al.: Prevalence and risk factors for pelvic organ prolapse 20 years after childbirth: a national cohort study in singleton primiparae after vaginal or caesarean delivery. BJOG. 2013;120(2):152–160.
  16. Gyhagen M, Bullarbo M, Nielsen TF, et al.: The prevalence of urinary incontinence 20 years after childbirth: a national cohort study in singleton primiparae after vaginal or caesarean delivery.BJOG. 2013;120(2):144–151.
  17. Gyhagen M, Åkervall S, Milsom I: Clustering of pelvic floor disorders 20 years after one vaginal or one cesarean birth.Int Urogynecol J. 2015;26(8):1115–21.
  18. MacArthur C, Wilson D, Herbison P, et al.: Urinary incontinence persisting after childbirth: extent, delivery history, and effects in a 12-year longitudinal cohort study. BJOG 2016 May;123(6):1022–9. 2.
  19. Kamisan Atan I, Lin S, Dietz HP, et al.: It is the first birth that does the damage: a cross-sectional study 20 years after delivery. Int Urogynecol J. 2018 Mar 21. doi: 10.1007/s00192–018–3616–4.
  20. Caudwell-Hall J, Kamisan Atan I, Guzman Rojas R, et al.:Atraumatic normal vaginal delivery: how many women get what they want? Am J Obstet Gynecol 2018;219(4):379.e1–379.e8.
  21. Milsom I, Gyhagen M: Breaking news in the prediction of pelvic floor disorders. Best Practice & Research Clinical Obstetrics and Gynaecology 2018 doi: 10.1016/j.bpobgyn.2018.05.004 (last accessed on 12 Oct 2018).
  22. Wilson D, Dornan J, Milsom I, et al.: UR-CHOICE: can we provide mothers-to-be with information about the risk of future pelvic floor dysfunction? Int Urogynecol J. 2014 Nov;25(11):1449–52.