Der Universitätsprofessor, Frauenarzt und Diplompsychologe Matthias Wenderlein nimmt keine Rücksicht und kein Blatt vor den Mund. Der erfahrene Geburtshelfer war über 35 Jahre hinweg in zwei universitären Kliniken mit je 2400 Geburten im Jahr regelmäßig im Kreißsaal tätig. Er war nie wegen eigener Versäumnisse in juristische Streitverfahren verwickelt, aber als Gutachter von Gerichten bestellt. Das betont er, weil auch die Erfahrungen aus der juristischen Bewertung von Geschehnissen im Kreißsaal den Hintergrund seiner Kritik an der im letzten Jahr – mit großem medialen Pomp – veröffentlichten S3 Leitlinie zum Kaiserschnitt eingehen. Er fragt ausdrücklich: Wie viel Erfahrung hatten denn diejenigen, die diese Leitlinie verfasst haben und – in wie viele Prozesse wegen unglücklicher Ergebnisse für Mutter und Kind sind die Beteiligten verwickelt? 

Dazu muss man wissen: Die S3 Leitlinie Kaiserschnitt soll eine Richtschnur sein für diejenigen, die den Kaiserschnitt anwenden, empfehlen, durchführen, indizieren – will heißen: Wann gibt es medizinische Gründe, einen Kaiserschnitt vorzunehmen, der Frau dazu zu raten? Bei einer Querlage wird das niemand bestreiten, aber schon bei Beckenendlage oder Steißlage scheiden sich die Geister: Kaiserschnittgegner wollen immer noch so tun, als sei hier eine natürliche Geburt gleich sicher, obwohl die wissenschaftliche Evidenz längst anderes sagt. Noch schwieriger wird es bei den so genannten verzögerten, protrahierten Geburten, die im Grunde bei Erstgebärenden die häufigste Ursache eines Kaiserschnittes sind: Hier gibt es Hardliner, die peitschen die Schwangeren aufmunternd bis zur Zange oder zur Saugglocke, koste es den Beckenboden, was es wolle. Oder gar die Memmenmütter (sorry, das ist jetzt Sarkasmus, aber so werden sie genannt), die gar von sich aus einen Kaiserschnitt wollen. Weil sie ein ungutes Gefühl haben, weil sie ein schweres Kind haben, weil sie 38 sind, weil sie 1.55 groß sind, weil ihre Mutter immer einnässte, weil sie eine Freundin haben, die nicht mehr raus geht wegen Stuhlinkontinenz, oder, oder, oder.  Alles gute Gründe zum Beispiel in den Augen der Urogynäkologen, aber nicht für diese Kaiserschnittleitlinie – an der übrigens kein Beckenbodenspezialist / Urogynäkologe beteiligt war. Man ahnt, warum. Gegen die verzerrte Darstellung, gegen Einseitigkeit und Versäumnisse erhebt nun ein erfahrener Frauenarzt die Stimme. Hier sind seine Argumente.

Zunächst hält Wenderlein fest, dass natürliche Geburt und Kaiserschnitt – sofern keine krankhaften Entwicklungen in der Schwangerschaft vorliegen – am Geburtstermin ein vergleichbares Risiko haben. Insofern wäre es eigentlich geboten, für beide Geburtsformen Nutzen und Risiko in absoluten Zahlen gegenüberzustellen. Das wäre im Interesse vor allem der Schwangeren gewesen, sei aber versäumt worden. 

Interessant ist, dass der erfahrene Geburtshelfer auf die Problematik der Apgar-Werte eingeht. Diese Werte stehen als Messlatte dafür, ob es dem Neugeborenen gut geht, 10 ist optimal. Riskant soll es erst dann sein für ein Kind, wenn ein Apgar-Wert, der 5 Minuten nach Geburt erhoben worden ist, unter 7 liege. Wenderlein führt eine Studie an, wonach dieser Wert als zu niedrig angesetzt ist, nur Apgar-Werte von 9 oder 10 sollten als erstrebenswert gelten, diese seien optimal für die kognitive Entwicklung des Kindes, für dessen geistige Fähigkeiten. Und er fragt kritisch: “Wie oft ist das bei geplanter Sectio nahe am errechneten Termin (ET) möglichst mit Wehenbeginn erreichbar und wie oft nach vaginaler Geburt?” Wenderlein verweist damit auf die oft für das Kind belastenden bis dramatischen natürlichen Geburten, die mit viel größeren Gefahren verbunden sind als ein Kaiserschnitt. Er nennt auch klar das Problem der Hebammen: Diese stuften die Sectio schon aus “Eigeninteresse” weiterhin als die aggressivere Methode ein. 

Wenderlein sieht auch die Gefahr von Beckenbodenschäden und eine weitere: sehr viele Frauen mit hohen Bildungsabschlüssen (auch mit medizinischen Vorkenntnissen) favorisieren einen Kaiserschnitt, weil sie ganz genau über die Beckenbodenschäden informiert sind und gut argumentieren können. Die Kaiserschnittleitlinie sagt nur grob: Beckenbodenschäden, insbesondere Prolaps und Harninkontinenz: scheint nach Kaiserschnitt seltener zu sein. Das ist nicht nur vage, sondern auch nicht hilfreich. Verschwiegen wird auch, das betont Wenderlein, dass Beckenbodenprobleme sogar die Lebenszeit verkürzen. Wenn Frauen ausgeprägte Risse nach einer natürlichen Geburt davon tragen, dann sollte ein Kaiserschnitt bei der nächsten erfolgen, die meisten wollen nach so schweren Schäden auch keine natürliche Geburt mehr durchleben. Daher zählen schwerwiegende, tiefe Dammverletzungen zu den 10 häufigsten Kaiserschnittindikationen, aber auch dies wird verschwiegen, rügt der Facharzt.

Kaiserschnitt nach Kaiserschnitt – die sogenannte Resectio – ist für 25 % aller Kaiserschnitte verantwortlich – na und, möchte man sagen. Die wenigsten Frauen wollen heute mehr als 2 Kinder. Wenn sie eine zweite Sectio haben, ersparten sie sich und ihrem Kind das tragische Schicksal eines Einreißens der Gebärmutter mit dramatischem, manchmal tödlichem Blutverlust. Man kann die natürliche Geburt nach einem Kaiserschnitt nur empfehlen, wenn die Schwangere vollumfänglich über dieses sehr bedrohliche Szenario aufgeklärt ist. Dass sich die Sectio nach Sectio-Rate in den letzten 10 Jahren fast verdoppelt hat ist also gut: Immer weniger Frauen sollten dem Risiko einer natürlichen Geburt nach vorangegangenem Kaiserschnitt ausgesetzt werden. 

Was Wenderlein auch moniert, ist die Tatsache, dass man Frauen mit einem Kaiserschnittwunsch in die Psychoecke zu stellen versucht. Das kann ich als Kritik an der Leitlinie nur unterschreiben. Die Frauen – darunter viele Ärztinnen und Rechtsanwältinnen – die von vorneherein die Entscheidung treffen, dass sie einen Kaiserschnitt wollen, sind weder ängstlich noch neurotisch noch therapiebedürftig. Sie wissen was sie wollen und haben ihre rationalen Gründe. Man muss ihnen keine “Geburtsangst” attestieren und man muss ihnen diese auch nicht wegtherapieren. Denn sie haben keine Angst, sie haben Argumente. Sie wissen um die Risiken eines Kaiserschnittes, aber sie wissen auch um die Risiken einer natürlichen Geburt. Sie wissen, dass die Narbe heilen muss, aber sie wissen auch, dass sie sich das Risiko eines tiefgehenden Dammrisses ersparen, der unter Umständen viel länger benötigt, um zu heilen, der sie vielleicht auf immer stuhlinkontinent aus dieser Geburt hervorgehen lässt. Der Wunsch dieser Frauen sei unbedingt ernst zu nehmen, schreibt Wenderlein und er spricht von “Voreingenommenheit”, wenn man diesen Frauen unterstellt, sie wüssten nicht, was sie wollen.

Ich kann nur sagen: Chapeau! Hier traut sich ein Frauenarzt, die Stimme gegen eine Leitlinie zu erheben, die tatsächlich mit Voreingenommenheit zustande kam. Sie unterdrückt die wichtigen Beobachtungen zu Beckenbodenschäden nach natürlichen Geburten – und dazu, wie ein Kaiserschnitt davor schützt. Zudem gibt es auch kein wirklich stichhaltiges Kapitel zur Sexualität nach Kaiserschnitt und nach natürlicher Geburt – man scheut offenbar den Vergleich. Das halte ich – als ergänzende Kritik zu Herrn Wenderlein – für ein großes Versäumnis. Inzwischen rennen viele Frauen den Zentren, die eine “vaginale Rejuvenation” mittels Laser anbieten – sprich die Scheide ein wenig enger machen und festigen wollen – die Praxis-Bude ein. Warum? Weil sie sich lax, schlaff, weit, überdehnt fühlen, weil sie ihren Partner in sich nicht mehr spüren, weil ihr Partner in ihnen nichts mehr spürt – allenfalls die Gebärmutter, die ihm beim Sex von oben entgegenkommt. Kein Wort davon, dass dies nach einem Kaiserschnitt anders ist. Aber selbst wenn die Leitlinie das verschweigt, die Frauen verschweigen es nicht mehr, sie tauschen sich aus, sie erfahren im Internet von anderen, was ihnen nach natürlichen Geburten widerfahren ist, wie es den Kaiserschnittmüttern und ihren Kindern geht. Es lässt sich auf Dauer nicht alles unter der Decke halten, unter den Teppich kehren – auch nicht von einer Leitlinie.

Quellen:

  1. Link zur Kaiserschnittleitlinie: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-084.html  
  2. Wenderlein M: Die S3-Leitlinie “Sectio caesarea” ist nicht zeitgemäß. gynäkologie & geburtshilfe 2020;25:50-51 47.https://link.springer.com/article/10.1007/s15013-020-3193-8