Zum Beginn des Jahres 2021 ist ein wichtiges Etappenziel auf dem Weg zur Aufklärung über Geburtsrisiken erreicht: In der Zeitschrift “Frauenheilkunde und Geburtshilfe”, erschienen im Januarheft dieses Jahres, wurde von Ärzten und Wissenschaftlern der Universitätsklinik Tübingen ein für deutsche Frauen eminent wichtiger Artikel verfasst mit dem Titel: “Vaginale Geburt und Inkontinenz – ist eine Aufklärung über dieses Risiko vor Geburt zielführend?” Bis auf einige Punkte kann man sagen: Das ist ein Riesenschritt vorwärts. Denn die Tatsache, dass Vertreter einer Universitätsklinik diese Frage zum Thema machen, ist schon bemerkenswert. Es bedeutet nämlich, dass man einsieht, man kommt am Thema Beckenbodenschaden bei natürlichen Geburten nicht mehr vorbei. Da steht dann so ein Satz wie: “Mit der Möglichkeit einer temporären und anhaltenden Inkontinenz in Folge von geburtsassoziierten Beckenbodenverletzungen – insbesondere auch bei langen Geburtsverläufen und dem Einsatz vaginal-operativer Verfahren – muss diskutiert werden, ob die vaginale Geburt in jedem Fall den idealen Geburtsmodus darstellt.” Das ist nicht besonders schön formuliert aber richtig: Da bei einer natürlichen Geburt die reale Gefahr einer vorübergehenden oder gar bleibenden Blasenschwäche gegeben ist, muss (!) diskutiert werden, ob es in jedem Fall ideal ist, natürlich zu gebären. Und auch auf den folgenden Satz hat man in der deutschen Geburtshilfe lange warten müssen, aber jetzt steht er da – und kein Frauenarzt kann mehr sagen, er habe es nicht gewusst: “Die moderne personalisierte Medizin hat auch in der Geburtshilfe Einzug gehalten: In der Praxis begegnen Hebammen und Geburtshelfer mündigen Frauen, die im Sinne der Förderung einer möglichst selbstbestimmten Geburt bezüglich der Geburtsmodi umfassend aufgeklärt werden wollen, was die realistische Darstellung von möglichen Risken der vaginalen Geburt miteinschließen muss.”
Zwar wird dann doch ein wenig abgeschwächt – Inkontinenz könne schon durch die Schwangerschaft als solche bedingt sein. Richtig, aber die natürliche Geburt vergrößert das Risiko eindeutig und signifikant, da beißt die wissenschaftliche Maus keinen evidenzbasierten Faden dran ab. Worauf die Tübinger Gruppe dankenswerterweise hinweist: Beckenbodentraining hat kurzfristige Effekte, aber langfristig ist da wenig Erfolg zu verbuchen. Was wiederum bedeutet: Es gibt wenig, das die Frauen konservativ gegen eine Blasenschwäche selbst tun können, am Ende ist eine Operation erforderlich. Umso mehr, umso eher kommt es darauf an, bei denen, die hohe Risiken haben, rechtzeitig die Notbremse zu ziehen, da hinterher nur noch wenig zu machen ist, oder nur mit invasiven Operationen. In meinen Augen ist der Artikel ein Meilenstein. Im Einzelnen bestätigt er vieles, was in diesem Blog schon lange gefordert wird.
Wichtig auch, dass man in diesem Artikel die unselige Wirkung von Zange und Saugglocke betont: Leserinnen dieses Blogs wissen schon, dass “vaginal-operative Verfahren” genau das meinen. Und sie wissen, dass diese beiden Instrumente dem Beckenboden großen Schaden zufügen können. Man erkennt überdies eindeutig an, wie schlimm die Folgen der Beckenbodenschäden für die Frauen sind: “Geburtsmodus-assoziierte Inkontinenz ist in deutlicher Weise (!) mit einer Verringerung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität assoziiert”, heißt es da wörtlich.
Hier erkennt man die Zeichen der Zeit, auch die, die von den Gerichten immer öfter schwarz auf weiß signalisieren, dass bei diesen Frauen ein Schaden wieder gut gemacht werden muss. Aufklärung müsse sein, nicht nur, aber auch wegen der juristischen Schritte, die immer mehr Betroffene unternehmen: “Nicht nur aufgrund von Rechtsklagen betroffener Frauen mehren sich kritische Stimmen, welche die dargestellte Rechtslage, wonach nur bei Sectiones standardmäßig über die Risiken aufgeklärt wird, für überholt halten”, heißt es wieder wörtlich von Seiten der Tübinger Ärzte und Wissenschaftler.
Ich empfinde es als eine späte Genugtuung, dass eine der geschädigten Frauen mit ihrer Petition von vor einigen Jahren immerhin als Erfolg verbuchen kann, dass ihr Fall in diesem Artikel erwähnt wird: “Hierzulande hat jüngst der Fall einer Patientin Aufsehen erregt, die nach einer vaginalen Geburt schwerwiegende Beckenbodenschäden davontrug und sich daraufhin an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages mit der Forderung wandte, Gebärende, die älter als 35 Jahre sind, vor der Entbindung über die Risiken einer vaginalen Geburt aufzuklären und davor zu schützen”. Ich freue mich, dass die Aktion dieser Betroffenen, auf deren Fall ich erstmals mit Hinweis auf ihre Petition in meinem Artikel über Beckenbodenschäden im “Deutschen Ärzteblatt” aufmerksam gemacht habe, nun Kreise zieht, Bedeutung erlangt und hier erneut erwähnt wird. Es sind solche mutigen Frauen, die nimmermüde für Aufklärung über die Geburtsrisiken kämpfen, die für andere den Weg bereiten, die sich mutig outen und die keine Beschwerde scheuen, um die Öffentlichkeit aufzurütteln.
Auch dieser Artikel dürfte für Juristen im deutschsprachigen Raum eine wichtige Hilfe sein, gilt es künftig für Betroffene aufzuzeigen, dass sie nicht genügend aufgeklärt worden sind. Übereinstimmend mit dem Papier der Urogynäkologen, das ich bereits explizit im Blogbeitrag vom 22. März 2020 besprochen und erläutert habe, wird hier das Geburtsgewicht des Kindes von 4000 g und darüber als Risiko genannt. Das heißt aber auch, jeder Frauenarzt, der während der Schwangerenbetreuung sieht, dass es ein schweres Kind wird, muss darüber aufklären und genau abklären, welches Geburtsgewicht droht. Auch wenn man das nicht auf 100 g ganz genau schätzen kann, es gibt Verdachtsmomente – und die muss man der Mutter mitteilen und mit ihr über Plan B – den Kaiserschnitt – zumindest sprechen, um Beckenbodenschäden klein zu halten. Das Gleiche gilt für ein Alter von über 35 und eine geringe Körpergröße (hier werden 1,65 m genannt, die Urogynäkologen ziehen die Grenze bei 160). Hinzu kommen ein höherer Body-Mass-Index der Mutter, sprich Übergewicht, außerdem schon bestehende höhergradige Geburtsverletzungen, also höhergradige Dammrisse. Wer hier nicht Obacht gibt und nicht erklärt, dass nach einer weiteren vaginalen Geburt massive Schäden drohen, der steht schon mit einem Bein vor Gericht. All dies steht nun explizit in einer deutschen Zeitschrift für Frauenheilkunde. Ab jetzt können Frauen und ihre Anwälte sagen: Hier steht, ab wann ihr mit den Frauen über die Risiken für den Beckenboden hättet reden müssen. Tut ihr dies nicht, habt ihr etwas versäumt, dann habt ihr sie nicht richtig aufgeklärt – Aufklärungsfehler sind mit die häufigsten Fehler, die vor Gericht Ansprüche begründen. Dass in einem solchen wegweisenden Artikel zwei meiner eigenen Texte aus dem “Deutschen Ärzteblatt” als Nachweis zitiert werden, ist mir ein Ansporn und eine Bestätigung, ich habe das also nicht umsonst geschrieben und werde auch weitere Beitrage hoffentlich nicht umsonst schreiben.
Quelle: Graf J, Abele H, Kagan K-O, Jakubowski P: Vaginale Geburt und Inkontinenz – ist eine Aufklärung über dieses Risiko vor Geburt zielführend? Geburtshilfe und Frauenheilkunde 2021;81:36-39. https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/a-1109-2237