Der Schrecken, den eine Krankheit verbreitet, ist immer relativ. Viele fürchten Demenz oder bösartige Tumore, andere eher dauerhafte Beeinträchtigungen durch einen Hirnschlag. Wenige Frauen kennen den Schrecken von Inkontinenzen, bis sie ihn selbst erdulden müssen. Denn der unwillkürliche, nicht kontrollierbare Verlust von Urin aus der Harnblase oder gar Stuhl aus dem Darm ist ein Tabu. Folglich sind Frauen in den besten Jahren – nach der Geburt eines Kindes – wie vom Donner gerührt, wenn sie plötzlich feststellen müssen, dass sie die Luft im Darm nicht mehr zurückhalten können oder gar Stuhl verlieren, ohne dass sie es merken. Sie kommen von einem Spaziergang mit dem Kind zurück und im Slip finden sich Spuren von Darminhalt. Solche Desaster können als Folge von Schließmuskelverletzungen des Darmausganges nach einer natürlichen Geburt auftreten. Diese Verletzungen nehmen seit Jahren deutlich zu. Es gibt Risikofaktoren dafür, die kennt die Fachwelt, aber die Frauen kennen sie oft nicht. Sie werden vor einer Geburt nicht darüber aufgeklärt. Die Fachwelt – Frauenärzt*innen und Hebammen – befürchten, das würde Panik machen. Ich hätte eher Angst davor, einer Frau ein Leben mit einem defekten Darmschließmuskel zuzumuten. Eine jüngste Studie macht klar: Diese Verletzungen nehmen seit Jahren zu, immer mehr Frauen sind betroffen. Welche Risiken es gibt, möchte ich in diesem Blogbeitrag erläutern.

Ein Team aus Forscher*innen der Ben Gurion-Universität in Israel wollte wissen, ob es heutzutage öfter zu höhergradiger Dammrissen (Risse zwischen der hinteren Begrenzung der Scheide und dem Anus, dem Ausgang des Darmes) kommt. Höhergradig nennen Mediziner*innen einen Dammriss dann, wenn einer der beiden Darmschließmuskeln (der äußere oder auch der innere) ganz oder teilweise eingerissen ist, manchmal erreicht der Riss auch die Schleimhaut, die Innenauskleidung des Darmes. Man nennt diese Verletzungen Dammriss Grad 3 und 4 oder OASIS (Obstetrical Anal Sphincter Injuries). Sie zählen zu den schwerwiegendsten Geburtsverletzungen und sind mit großem Leid für die betroffenen Frauen verbunden. OASIS haben einen zerstörerischen Einfluss auf Frauen in ihren besten Jahren, sie rufen Schamgefühle hervor, bedeuteten hohe Kosten für das Gesundheitssystem wegen zahlreicher Arztbesuche und Behandlungen und bürden den Betroffenen eine immense Krankheitslast auf.

Je nach Studie, die die Häufigkeit erfasst, gehen Ärzt*innen davon aus, dass es in 0,1 bis 8,7 Prozent zu solchen Verletzungen kommt. Andere sprechen von jeder zehnten Frau, die betroffen ist. Es kommt auf die Untersuchungsmethode an. Oft werden die Defekte nach der Geburt übersehen, weil niemand tastet oder weil später kein Ultraschall gemacht wird. Damit kann man Risse in den Schließmuskeln am verlässlichsten sehen. Die Forscher stellten fest, dass von 1988 bis 2016 an einem Krankenhaus der Maximalversorgung für Mutter und Kind, also einer bestens ausgerüsteten Geburtsklinik, schwerwiegende, höhergradige Dammrisse bei Erstgebärenden um das Siebenfache angestiegen sind. Das heißt, dass heutzutage eine Frau, die in ihre erste Geburt geht, ein vielfach höheres Risiko hat, dass ihr Darmverschluss einreißen wird, als drei Jahrzehnte zuvor. Warum ist das so? Während immer schon sehr schwere Kinder mit einem Geburtsgewicht über 4 kg einen Risikofaktor darstellten, ist inzwischen die Saugglocke und auch der Versuch einer vaginalen Geburt nach einem Kaiserschnitt als bedeutende Treiber des Risikos hinzugekommen. Saugglockengeburten nehmen auch in Deutschland deutlich zu. Hierzulande muss jede 10. Frau, die normal entbindet – also keinen Kaiserschnitt bekommt – damit rechnen, dass bei ihr eine Saugglocke zur Anwendung kommt: 2019 kam hierzulande bei 521.333 vaginalen Geburten in  52.829 Fällen überwiegend die Saugglocke zu Anwendung – das sind exakt 10,13 %. 10 von 100 Frauen in einem Geburtsvorbereitungskurs oder eine von 10 muss damit rechnen, dass sie ein sehr hohes Risiko für OASIS eingeht.

Ein weiterer, bedenkenswerter Faktor ist das OASIS-Risiko nach einem ersten Kaiserschnitt für den Fall, dass dann eine vaginale Entbindung versucht wird (dies nennt man VBAC oder vaginal birth after caesarean). Sehr oft heißt es, es gebe da zwar ein Uterusrupturrisiko, also die Gefahr, dass die Gebärmutter reißt, aber das sei sehr gering. Das würde ich schon bezweifeln, denn dies bedeutet Lebensgefahr für Mutter und Kind, es ist der geburtshilfliche GAU. Aber öfter noch kommt es zu Levatorabrissen, das werde ich in einem späteren Blog zeigen. Wichtig ist zu wissen, dass dieser Versuch einer vaginalen Geburt auch das Risiko birgt, dass die Darmschließmuskulatur beschädigt wird – und dass dies nun immer öfter vorkommt. Warum? Weil ein erster Kaiserschnitt schon ein Indiz, ein Hinweis ist, dass es mit den Geburten bei dieser Frau nicht so leicht klappt. Oft wird der Kaiserschnitt schließlich gemacht, weil es zu lange dauert, die Geburt sich enorm verzögert und Mutter und Kind drohen, Schaden zu nehmen. War dies einmal so, ist nicht damit zu rechnen, dass die zweite Geburt besser wird: Und das bestätigt diese Studie. Immer öfter kommt es inzwischen bei diesen Versuchen, eine natürliche Geburt beim zweiten Mal zu erzwingen, zu schweren Dammrissen oder OASIS. Das lässt erkennen, dass man aus verschiedenen Gründen durchaus vorsichtig sein sollte, wenn man einen solchen Versuch unternimmt.

 

 

Quellen:

Ekstein-Badichi N, Shoham-Vardi I, Weintraub AY. Temporal trends in the incidence of and associations between the risk factors for obstetrical anal sphincter injuries. Am J Obstet Gynecol MFM. 2021 Jan;3(1):100247. doi: 10.1016/j.ajogmf.2020.100247. 

Auswertung des IGTIG / Geburten in Deutschland: https://iqtig.org/downloads/auswertung/2019/16n1gebh/QSKH_16n1-GEBH_2019_BUAW_V02_2020-07-14.pdf