Eigentlich sollte eine Frau, die eine anspruchsvolle Ausbildung in einem der wichtigsten Gesundheitsberufe – Physiotherapie – absolviert hat, gewappnet sein, wenn so ein wichtiges Ereignis wie eine Geburt ansteht. Eigentlich müsste „frau“ dann in ihrer Ausbildungszeit etwas über die Geburt, ihre Risiken und ihre Spätfolgen gelernt haben. Von wegen: Ich bin Physiotherapeutin und ich hatte keine Ahnung! So saß ich ungläubig und abwesend den Urogynäkologinnen und Urogynäkologen gegenüber, als diese mir meine Diagnose verkündeten: Gebärmutter- sowie Blasensenkung! Ich bin 33 Jahre alt, ich habe einen Beruf, der mich körperlich fordert, ich weiß, wie wichtig physische Fitness und ein funktionierender Muskel- und Bindegewebsapparat sind. Und jetzt weiß ich, dass zentrale Stellen meines Körpers schon eine Schwäche aufweisen, die nur mit großer Disziplin in den Griff zu kriegen ist.
Wie es dazu kam:
Ich entband meine Tochter Anfang September 2021 vaginal als Sternenguckerin. Dank der Hebamme hatte ich nur Labieneinrisse, die genäht wurden. Ich war zunächst heilfroh, dass ich so glimpflich ohne Geburtsverletzungen davongekommen bin. Leider – nur drei Monate später – musste ich feststellen, dass “frau“ dennoch Schäden davontragen kann, auch wenn die angeblich so „oberflächlichen“ Labienrisse oder andere, vermeintlich harmlose Risse und Schädigungen bei einem selbst zunächst gar keinen Argwohn aufkommen lassen. Ich kann dem Alltag nicht so nachgehen, wie es die anderen Mütter um ich herum können. Ich schränke mich in vielerlei Hinsicht mehr ein als andere und kann mein Mutterdasein nicht in vollen Zügen genießen. Das alles belastet mich auch psychisch bis heute noch Monate danach, da es ein Einschnitt in meinem Leben ist.
Ich selbst wurde leider als Physiotherapeutin nicht darüber informiert, ich wurde nicht in Therapien zum Beckenboden geschult oder habe auch in keinem Vorbereitungskurs/-buch/-forum davon gelesen, dass es nach einer Schwangerschaft und Geburt zu solchen Problemen wie Senkungen/Inkontinenzen/Schmerzen/… kommen kann. Mich macht es wütend und traurig zugleich, dass man von Gynäkolog*innen und Hebammen nicht einfühlsam darauf hingewiesen wird. In keiner Untersuchung in der Schwangerschaft, aber auch in keinem Vorbereitungskurs wurde diese Thematik angesprochen oder auch besprochen, was man eventuell prophylaktisch alles machen könnte. Ich denke mir, wenn ich selbst schon als eine in Gesundheitsfragen und in Bezug auf die Funktionen des Körpers gut ausgebildete Frau nicht darauf gekommen bin, wie sollen andere Schwangere vermuten können, was an Risiken lauert und wie diese vermieden werden können.
Ich finde, dass man als Frau ein Recht darauf hat! Es ist schließlich ein einschneidendes Erlebnis! Ich wünsche mir, dass mehr auf diese Thematik von Seiten der Hebammen und Ärzt*innen schon in der Schwangerschaft eingegangen wird und auch nach der Geburt unterstützend uns Frauen zur Seite gestanden wird! Ich meinerseits habe beschlossen mich für diese Frauen einzusetzen und auch zu helfen. Ich möchte mich als Physiotherapeutin diesem Thema mehr zuwenden!
Eine Physiotherapeutin
Meine Anmerkungen dazu:
Diese Zuschrift erhielt ich von einer geschädigten Mutter, deren Name, das Gewicht des Babys und weitere Umstände der Geburt wir hier wegen der Anonymisierung bewusst nicht nennen. Ich danke für die Zuschrift einer Fachfrau, die einmal mehr beglaubigt, wie schlecht die Aufklärung in Sachen Geburtsrisiken, wie schlecht aber auch die Nachsorge und Therapie von Beckenbodenschäden nach der Geburt hierzulande ist. Diese Betroffene ist wie so viele Frauen völlig überrumpelt worden von dem Zustand ihres Körpers nach der Geburt. Niemand hat vorher mit ihr darüber gesprochen, ob vielleicht ihr Alter, ihre Größe, das geschätzte Geburtsgewicht ihres Kindes, dessen Geburtsposition oder ihr eigenes schwaches Bindegewebe darauf hindeuten könnten, dass sie nach der Geburt die genannten Probleme haben könnte.
Es geht nicht darum, dass alle Frauen sich gleich zum OP für einen Kaiserschnitt anstellen – obwohl es zum Beispiel Geburtshelfer gibt, die eine Sternenguckerposition schon für eine Berechtigung für den Kaiserschnitt halten, weil dann der vergrößerte Durchmesser des Babyköpfchens per se schon ein Geburtsproblem darstellt. In jedem Fall hätte man hier die einzig nachgewiesen wirksame Dammschutzmaßnahme – warme Kompressen – konsequent anwenden müssen.
Es geht vor allem darum, dass sich Frauen entscheiden können, dass sie in so einer Risikokonstellation im Kreißsaal noch mal mit viel mehr Vorsicht behandelt werden, dass danach sehr genau geschaut wird, welche Belastungen der Beckenboden hatte und dass vielleicht rechtzeitig zu Pessaren oder anderer Prävention geraten wird, um die Last – und die Beckenbodenschäden – nicht noch zu vergrößern. Es geht darum, dass Frauen das alles wissen müssen, und dass sie es einfordern können.
Mangelnde Aufklärung, die unter dem Motto verweigert wird, man wolle keine Panik erzeugen, ist immer zum Nachteil von Mutter und Kind. Die Frau hat später das Gefühl, die Entscheidung sei ihr aus der Hand genommen worden, alle hätten über ihr Schicksal bestimmt, nur sie selbst nicht. Zudem werden frühe präventive Maßnahmen nicht rechtzeitig in Stellung gebracht.
Zu dem konkreten Fall muss ich leider der Klinik und den Versorgerinnen und Versorgern im Kreißsaal Vorwürfe machen: Labienrisse, die genäht werden müssen, sind nicht trivial und dürfen nicht einfach übergangen werden. Solchen Labienrissen bei Sternenguckerposition muss nachgegangen werden, denn es handelt sich um eine Risikokonstellation für weitere Schäden. Zu fragen wäre also: Was ist noch passiert? Hat der Levator das ausgehalten (denn diese Kindslage erhöht das Risiko für Levator-Avulsionen), was ist mit dem Darmverschluss (frühe endoanale Ultraschalldiagnostik wäre angebracht gewesen), wie sehr ist der Hiatus vergrößert (als Maß für die Beckenbodenweitung)? – um nur einige zentrale Fragen zu nennen. Ganz offensichtlich hat das System hier wieder einmal eine Mutter einfach ihrem Schicksal überlassen.
Daran sieht man: Alle Informationen, die umfangreiche Aufklärung, vorsichtigere Geburtsleitung, mehr Diagnostik, frühere Prophylaxe und rechtzeitige Therapie ermöglicht hätten, lagen allen Beteiligten vor. Dennoch fühlt sich selbst eine Fachfrau allein gelassen: Dem geburtshilflichen System in Deutschland fehlt es an Empathie vor, während und nach Geburten.