Wir nehmen gerade an einem der wichtigsten geburtsmedizinischen Meilensteine teil, der in die Geschichte eingehen wird: England verabschiedet sich von der lange gültigen Vorstellung, nur eine niedrige Kaiserschnittrate sei eine gute Kaiserschnittrate. Ein Land, das wie kein anderes über viele Jahre zum Schaden der Kinder und Mütter die Geburtsphilosophie von den Advokaten einer natürlichen Geburt “um jeden Preis” bestimmen ließ, sieht eine möglichst hohe Zahl natürlicher Geburten ab sofort nicht mehr als erstrebenswertes Ziel an. Mütter sollen fortan nicht befürchten müssen, zu einer natürlichen Geburt überredet oder gar gedrängt zu werden, wenn sie mit zu hohen Risiken für sich und ihr Ungeborenes in den Kreißsaal kommen. Entscheidend soll vielmehr sein, dass das Kind und seine Mutter am Ende des Tages gesund und unversehrt sind – was Leserinnen und Leser dieses Blogs im übrigen schon lange lesen konnten. Wir müssen uns den Februar 2022 als eine Kehrtwende im Kalender markieren. Medizinhistoriker werden künftige Müttergenerationen darüber belehren, welche Kehrtwende hier vorgenommen worden ist. Was ist geschehen?

Im “British Medical Journal”, dem Ärzteblatt der Ärzteschaft in England, wurde am 21. Februar folgende Botschaft publiziert: Die oberste Nationale Gesundheitsbehörde in England (National Health Service NHS) weist ab sofort die Direktoren von Frauenkliniken und Geburtskliniken an, dass sie die Höhe der Kaiserschnittrate nicht mehr als Qualitätskriterium ansehen dürften. Niedrige Kaiserschnittraten seien kein Ausweis einer guten Geburtshilfe. Denn die niedrigen Margen, die viele anstrebten, die dazu führten, dass die Kaiserschnittraten klein gehalten worden sind, hätten dazu geführt, “unangemessene Risiken” in Kauf zu nehmen.

Dies ist nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis eines Reports, der Mitte 2021 veröffentlicht worden ist. Dieser äußerte sich über die “äußerst besorgniserregende” Praxis, den Kliniken Strafen anzudrohen, wenn ihre Kaiserschnittraten höher waren, als etwa der Durchschnitt oder höher, als selbsternannte Wächter und Verteidiger der natürlichen Geburt es wahrhaben wollten. Großartig an dieser neuen Direktive ist, dass die oberste Hebamme Englands, chief midwifery officer Jacqueline Dunkley Bent, diesen Appell mit unterzeichnet hat. Das ist ein Fingerzeig. Nicht nur Ärztinnen und Ärzte sind offenbar der Meinung, dass der Kaiserschnitt – korrekt indiziert und zum richtigen Zeitpunkt vorgenommen – viel Gutes bewirken kann und schweren Schaden von Kind und Mutter abwenden kann. 

Es soll eben darauf ankommen, nach dem Risikoprofil der Geburt über die Geburtsform zu entscheiden, gefährdete Mütter dürfen nicht in falsche Sicherheit gewiegt und dazu verdonnert werden, um jeden Preis natürlich zu gebären. Andernfalls würden die Kliniken falsche Entscheidungen forcieren. Beide Geburtsformen, die vaginale Geburt und der Kaiserschnitt, hätten Vor- und Nachteile, heißt es in dem Bericht. Beide Seiten müssten den Schwangeren vorgestellt werden und mit ihnen zusammen sei die Entscheidung zu treffen, welche Geburt im individuellen Fall die beste für Mutter und Kind sei. 

Damit verabschiedet sich England von einer Geburtspolitik, die zuletzt durch den Morecambe Bay Skandal landesweit Schlagzeilen machte: Hier hatten Hebammen, die man als die “Musketiere” bezeichnet hat, über viele Jahre in mehreren Kliniken rigoros dafür gesorgt, dass selbst in schwierigen Hochrisikosituationen Schwangeren der Kaiserschnitt vorenthalten worden war. Etliche Ungeborene haben das nicht überlebt, andere wurden schwer geschädigt, ebenso die Mütter. Elterninitiativen hatten schließlich dazu geführt, dass eine Untersuchungskommission das ganze Schadensausmaß der Ideologie-getriebenen Geburtshilfe aufdeckte und für einen landesweiten Aufschrei sorgte. Seither haben es jene, die nur eine vaginale Geburt als gut und richtig akzeptieren, in England schwerer. Seither wagen sich immer mehr von jenen aus der Deckung, die auf geburtshilfliche Gefährdungen aufmerksam machen und fordern, dass allein die künftige Mutter und deren Partnerinnen und Partner das Sagen haben sollen: Wie sie gebären wollen, was ihnen wichtig ist, entscheiden sie selbst und nicht die Hebamme, die meint zu wissen, was gut ist. Der Morecambe-Bay Skandal steht deshalb in England für den engstirnigen, verfehlten und wissenschaftlich nicht zu rechtfertigenden Druck bestimmter Kreise auf die Geburtshilfe, ihre Kaiserschnittraten so gering wie möglich zu halten (https://www.aerzteblatt.de/archiv/175329/Enorme-Vorteile-fuer-aeltere-Erstgebaerende).

Der Times in England war dies ein eigener Bericht wert, auch ein Fingerzeig, wie elementar sich das Blatt gewendet hat: https://www.thetimes.co.uk/article/baby-deaths-force-end-to-nhs-targets-for-natural-births-jzq5mllhd. In Deutschland sind wir noch nicht so weit. Unsere Kaiserschnittzahlen sinken, zum Preis vermehrter Saugglocken- und Zangengeburten. Ich habe unlängst im “Deutschen Ärzteblatt” beschrieben, dass dies nicht nur für die Frauen, sondern auch für die Kinder mit mehr Gesundheitsrisiken verbunden ist: https://www.aerzteblatt.de/archiv/222459/Geburtshilfe-Sinkende-Sectiorate-fordert-Tribut. Es ist eine Mär zu glauben, man täte den Kindern etwas Gutes, wenn man ihnen in Risikosituationen einen Kaiserschnitt erspart.

Bei uns gilt noch der Versuch, trotz immer höherer Raten an gefährdeten Schwangerschaften, Frauen und Kindern die vaginalen Geburten zu Ende zu bringen, koste es für die Betroffenen, ihren Beckenboden oder ihr Kind, was es wolle. Man kann nur hoffen, dass sich dafür die Ideologen einst genauso werden rechtfertigen müssen wie in England. 

Quellen:

Wilkinson E: Hospitals in England are told to stop using caesarean rates to assess performance. BMJ 2022376 doi: https://doi.org/10.1136/bmj.o446 (Published 21 February 2022)Cite this as: BMJ 2022;376:o446

https://www.aerzteblatt.de/archiv/207813/Geburtshilfe-Die-Sectiorate-zu-senken-ist-schwierig