Es ist mehr als verwunderlich, dass Expertinnen und Experten für Beckenbodenschäden erstaunlich hohe Raten an Inkontinenz und Organvorfall nach Geburten in Fachzeitschriften berichten, allerdings viele Betroffene den Eindruck haben, ihre eigenen Frauenärztinnen und Frauenärzte wären auf diesem Auge blind. Hat sich all das tatsächlich in der “Szene” noch nicht herumgesprochen? Ein jüngstes Beispiel: In einer Fachzeitschrift für Geburtshilfe steht es in einem Artikel mit dem Titel: “Aspekte einer Beckenbodenprotektion bei der Spontangeburt – eine Übersicht” schwarz auf weiß und für jeden offen zugänglich: 15% bis 31% der Frauen sind 6 Monate nach der Geburt stressinkontinent, verlieren beim Lachen, Niesen, Springen Urin, 8% sind stuhlinkontinent – etwa jede zwölfte Frau verliert unwillkürlich Stuhl (!) – und zum Prolaps, zum Hinabsinken der Gebärmutter machen sie keine Angaben, auch nicht zur Zahl der Levatormuskelabrisse. Aber eigentlich genügt das ja auch schon. Es muss unterstellt werden, dass einer Stuhlinkontinenz einen Riss in dem äußeren oder inneren Schließmuskel vorausgeht, sonst wird eine Frau in jungen Jahren oder in der Mitte ihres Lebens nicht einfach stuhlinkontinent. Stressinkontinenz nach der Geburt kommt auch nicht von alleine. Mithin haben all diese Frauen erhebliche Geburtsverletzungen, Überdehnungen, Nervenschäden … unter der Geburt erlitten. Wer bestreitet noch, dass das zu viele sind.

Der Artikel enthält sehr viele Detail, daher werde ich ihm noch einen zweiten, nächsten Blogeintrag widmen. Diesen ersten hier verwende ich auf einen einzigen Aspekt: Verhinderung von Beckenbodenschäden. Die schlechte Nachricht lautet: Unter der Geburt gibt es wenig, dass Hebammen und ärztliche Geburtshelferinnen und -helfer tun können. Oft behauptet, aber unbewiesen ist, dass die Geburtsposition – aufrecht, nicht liegend – auf schlimme Verletzungen einen Einfluss habe. Im Gegenteil: Aufrecht gebären heißt zwar (nur für Erstgebärende, die dies überhaupt schaffen), dass die Austreibungsperiode sich verkürzt und es weniger assistierte Geburten mit Zange und Saugglocke gibt, auch weniger Dammschnitte. Aber – und hier muss jede hellhörig werden: Höhere Rate an zweit- und drittgradigen Dammrissen, nochmal mehr im Stehen als im Sitzen – und höhere Blutverluste für die Frauen. Also ist das ein ganz zweischneidiges Schwert, wenn von der liegenden Position abgeraten wird. Der Artikel sagt eindeutig, dass das Risiko für einige Dammschäden in aufrechter Position höher ist.

Können die Hebammen den Damm schützen, indem sie entweder “hands off” – die Finger weglassen, den Kopf des Kindes oder den Damm nicht berüheren – oder “hands on” praktizieren, damit Hand anlegen, um mit gezielter Führung, Gegendruck ausüben, damit der Kopf des Kindes langsam durchtritt? Das gilt als eine ureigene Hebammenkunst, aber der Artikel befindet: Wissenschaftlich lässt sich nicht entscheiden, was überhaupt nützt, Hände weglassen, Hände anlegen, es ist ein irrationales Versprechen, der Damm könne so oder so besser geschützt, vor einer Verletzung bewahrt werden. Wenn es also heißt, eine versierte, erfahrene Hebamme könne den Damm unter der Geburt schützen, so muss jede Frau nachhaken und am Tag der offenen Tür oder im Geburtsvorbereitungskurs fragen: Wie, wo ist der Beweis, womit lässt sich diese Aussage begründen?

Es gibt auch eine gute Nachricht, und die lautet: Nachweislich helfen warme Kompressen am Damm, sobald der Kopf des Kindes durchtritt. Uneinigkeit herrscht nur in Bezug auf das Ausmaß der Wärme, welche Wassertemperatur sollen die warmen Kompressen haben, aber dass sie nützen, kristallisiert sich in Studien immer klarer heraus. Manche behaupten, wenn das Wasser mit Koffein getränkt wäre, nützten sie noch mehr, aber das lässt sich nicht belegen. Wer mit warmen Kompressen unter der Geburt geschützt wird, hat weniger Dammverletzungen, hat mit viel höherer Wahrscheinlichkeit einen komplett unverletzten Damm, hat weniger Dammschnitte. Soweit so positiv. Und dann kommt doch noch eine schlechte Nachricht hinterher: “Obwohl der Nutzen warmer Kompressen bekannt ist, werden sie von Hebammen nur selten angewendet”. Soviel dazu, dass Hebammen künftig evidenzbasiert arbeiten sollen, streng nach den Erkenntnissen der Wissenschaft. 

Dies alles steht in einem Artikel, der aktuell von Wissenschaftlern der Universitäten Freiburg, Tübingen und Berlin erschienen ist, unter Mitwirkung eines Mitgliedes der speziell für Beckenbodenschäden ausgebildeten Physiotherapeuten. Wo berichten die Medien darüber, dass hierzulande Praktiken, die im Kreißsaal nachweislich helfen, selten praktiziert werden, dass der Damm von Gebärenden es nicht wert ist, sich an medizinische Erkenntnisse zu halten, dass Hebammen ignorieren, was den Frauen nützt. Würden Ärztinnen und Ärzte das schreiben, wenn es um Herzoperationen ging, um Krebstherapien, um Diabeteseinstellung, würde hier zugegeben, dass in Krankenhäusern eine Risikoreduktion zulasten der Patienten nicht beachtet wird, wäre es ein Skandal, gäbe es einen Aufschrei. Immerhin stehen 780000 Frauen jedes Jahr in Deutschland vor einer Geburt, gut 520000 vor einer vaginalen. Sind sie alle es nicht wert, dass wir uns darüber empören? Oder hoffen alle stillklammheimlich, mit solchen Publikationen tue man zwar der Wissenschaft genüge, aber niemand lese das so ganz im Detail, dass es auffallen könne? Klar ist: Schwere Schäden, die sich ereignet haben, ohne dass warme Kompressen angewendet worden sind, könnten – hier werden die Rechtsanwälte und ihre Kolleginnen bald hellhörig werden – könnten eine Verletzung der Sorgfaltsplichten bedeuten. Bei schweren Schäden wird die Betroffene bei einer juristischen Auseinandersetzung fragen dürfen: Warum habt ihr das gemacht, was unnütz ist, warum aber nicht das, was mir geholfen hätte? Daher sind solche Artikel so wichtig. Nur auf den ersten Blick ist es harmlos, solche Aussagen in Fachzeitschriften zu machen. Sie könnten sich noch als veritabler Bumerang entpuppen.

Quellen: Hübner M, Rothe C, Plappert C, Baeßler K. Aspects of Pelvic Floor Protection in Spontaneous Delivery – a Review. Geburtshilfe Frauenheilkd. 2022 Apr 5;82(4):400-409. doi: 10.1055/a-1515-2622.