Wenn Frauen, die nach einer natürlichen Geburt erkennbar schlimme Verletzungen am Beckenboden davon getragen haben, sich mit ihren Sorgen und Nöten abgewiesen und abgelehnt fühlen, haben sie Recht. Es handelt sich eben nicht um überzogene Empfindlichkeit, es ist nicht neurotisch und der Grund ihrer Beschwerden liegt nicht an der Unfähigkeit, mit den Folgen einer Geburt richtig umzugehen. Es ist vielmehr falsch, dass das medizinische System sie nicht ernst nimmt. Jetzt haben wir es amtlich – wissenschaftlich beglaubigt.
Ein ebenso bewegender wie überfälliger Artikel zeigt nämlich nun mit dem Finger auf die Missstände: “Overlooked by the obstetric gaze” heißt der Titel (1). Die Bedürfnisse der Frauen werden verneint, man tut so, als sei das alles “normal”, sie erhalten nicht nur zu wenig Diagnostik und Therapie, auch mit Problemen am Arbeitsplatz – wenn sie wegen ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung krank geschrieben werden müssen – lässt man sie allein. Jetzt kann man den Ärztinnen und Ärzten, die immer und immer wieder abwimmeln, einen Artikel vor die Nase halten, der beglaubigt, dass die Patientin, die sie so gerne los werden möchten, eigentlich Recht hat.
Man könnte und sollte seitenlang aus diesem Artikel zitieren. Es lohnt sich jedenfalls, dies alles im Detail zu lesen. Warum? Weil hier schonungslos aufgedeckt wird, wie alle jene Gesundheitsberufe, die den betroffenen Frauen eigentlich helfend zur Seite stehen sollen, die ihnen Anbefohlenen im Stich lassen.
Da ist zum Beispiel das Paradox der “Normalisierung”. Zahlreiche Beispiele werden im Artikel dafür angeführt, wie Ärztinnen, Ärzte und andere den Geschädigten vermitteln: “Das sieht normal aus” – “Das ist normal nach Geburten”, das sei eben natürlicherweise so. Für die Frauen fühlen sich aber Inkontinenz, Schmerzen, Narbenspangen, eine zu weite Scheide, herabsinkende innere Organe und vieles mehr an Beschwerden keineswegs “normal” an. Denn es ist ja auch nicht normal, so haben sie sich vor der Geburt nie gefühlt und so fühlt es sich auch ohne Geburten nie an. Ohne jede medizinische Rechtfertigung, so schreiben die bravourösen Autorinnen und Autoren dieses Artikel, würden solche Frauen als “hysterisch” abgestempelt. Es wird den Frauen vermittelt, das alles spiele sich nur “in ihrem Kopf” ab.
Ich kann das bezeugen. Ich habe bei einem Kongress selbst erlebt, wie eine Urogynäkologin aus einem renommierten Beckenbodenzentrum zahlreiche Beschwerden bei Senkungen von Blase, Darm und Gebärmutter nach einer Geburt vor einem großen Auditorium aufzählte – und sich dann verwundert zeigte, warum diese Patientin so klagte, das sei doch alles “fast physiologisch” nach einer Geburt. Es regte sich keinerlei Widerspruch im Auditorium. Wenn man mit dieser voreingenommenen Einstellung an die Patientinnen herangeht, dann haben die Frauen schon verloren. Zu einem “Haben Sie sich mal nicht so, da werden auch andere mit fertig” ist es dann naturgemäß nicht mehr weit.
“Niemand …. niemand nahm mich ernst” wird eine zu Recht frustrierte Patientin zitiert. Eine andere gibt zu Protokoll: “Ich wurde mit einer Broschüre und einem Klaps auf die Schulter nach Hause geschickt”. Im Jahr 2024 ist das eine schier unerträgliche Vernachlässigung von Frauen, die Kinder gebären – in Deutschland immerhin 700000 im Jahr.
Und am Ende wage man nicht mehr, über die Verletzungen zu sprechen, äußert sich eine weitere Betroffene in dem Artikel. Das hat Folgen weit über das Schicksal einer einzelnen Frau hinaus. Denn wenn die Verletzungen tot geschwiegen werden, muss niemand sich dafür rechtfertigen, wie es dazu kommen konnte. Niemand muss erklären, warum nicht schon im Kreißsaal genau geschaut, besser genäht worden ist. Niemand muss sich in einer Frauenarztpraxis um Verschreibung von Physiostunden, um Anpassung von Pessaren, um Sekundärnähte, um Überweisungen in eine Beckenbodenklinik kümmern, niemand muss Verantwortung für diese ohnmächtigen Frauen übernehmen. Es heißt auch von den Versicherern: “Damit müssen Sie einfach nach einer Geburt rechnen” – keine Kompensation, alle Hilfs- und Heilmittel müssen die Frauen selbst zahlen, eine Erweiterung der beruflichen Pause aufgrund solcher Schäden gibt es auch nicht. Eine Frau schreibt, man sage ihr, sie könne sich doch in der Mutterschaftspause ausruhen. Sie hält dagegen: Ich bin nicht im Mutterschaftsurlaub, ich bin krank, ich sollte krank geschrieben sein”. Hier zeigt sich erneut, dass all diese Verletzungen und Beeinträchtigungen allenfalls als live-style Problem gesehen werden und man ihren Krankheitscharakter überhaupt nicht ernst nimmt.
Die Autorinnen und Autoren der Studie sehen es als “obstetric gaslighting” an – als eine Form psychischer Gewalt, bei dem die Opfer so stark durch Lügen, Leugnen und Einschüchterungstaktiken manipuliert werden, dass sie anfangen, an ihrem eigenen Verstand zu zweifeln.
Warum muss ich überhaupt so eine Studie zitieren? Weil hier auf diesem Blog seit Jahren das gleiche vermeldet wird, sich aber trotzdem nur wenig bewegt. Ich empfinde es als den größten frauenfeindlichen Medizinskandal, dass wir die Frauen, die Kinder gebären, die ein eminent wichtiger Pfeiler unserer Gesellschaft sind, auf so perfide Weise im Stich lassen. Es ist eine Schande.
Quelle:
Tjernström K, Lindberg I, Wiklund M, Persson M. Overlooked by the obstetric gaze – how women with persistent health problems due to severe perineal trauma experience encounters with healthcare services: a qualitative study. BMC Health Serv Res. 2024 May 9;24(1):610. https://bmchealthservres.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12913-024-11037-5