Es geschieht selten genug, dass über Versäumnisse bei Geburten die Staatsanwaltschaft tätig wird, aber manchmal ist die Nachlässigkeit gegenüber den Frauen so groß, dass Verantwortliche auch strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Mehrere überregionale Medien berichteten aufgrund einer Presseagenturmeldung von dpa jetzt über Ermittlungen in Traunstein gegen eine ehemalige Chefärztin der Klinik Wasserburg. Dort wurden in Räumen der RoMed-Kliniken in Rosenheim und Wasserburg nach Belegen und Beweisstücken gefahndet. Was aufhorchen lässt, ist ein wichtiger Hinweis auf eine bekannte Strategie -die Vermeidung von Kaiserschnitten um buchstäblich jeden Preis. Schon im Eingangstext des Berichtes heißt es: “Es besteht der Verdacht, nötige Kaiserschnitte könnten nicht vorgenommen sein worden. In einem Fall geht es um fahrlässige Tötung.” Eine tödliche Kaiserschnittvermeidungs-Ideologie hat im Königreich England im Zusammenhang mit dem Morecambe Bay Skandal Schlagzeilen gemacht. Das hat nicht zuletzt zu einer rigorosen Infragestellung einer Geburtspolitik geführt, die die natürliche Geburt immer noch und gegen jede wissenschaftliche Erkenntnis stets als das Beste verteidigt – koste dies die Mütter und die Kinder, was es wolle.
Im Detail heißt es im Artikel: “Nach Auffälligkeiten bei Geburten im Klinikum in Wasserburg am Inn ermittelt die Staatsanwaltschaft Traunstein gegen eine ehemalige Chefärztin der gynäkologischen Abteilung. „Derzeit besteht ein Anfangsverdacht hinsichtlich einer fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung in elf Fällen“, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. In den Fällen soll es darum gehen, dass Kaiserschnitte nicht vorgenommen worden sein sollen, obwohl sie womöglich nötig gewesen wären. „Es gilt hier zu klären, ob ordnungsgemäß aufgeklärt wurde beziehungsweise alle entscheidungserheblichen Faktoren berücksichtigt worden sind“, sagte der Sprecher.
Offenbar hatte sich jemand wegen der Missstände ein Herz gefasst und anonym Anzeige erstattet, was die ganze Sache ins Rollen brachte. Daraus lernen wir, dass man Mut und Gelegenheit benötigt, um für eine sicherere Geburtshilfe auch mit den Mitteln des Strafrechts zu kämpfen. Man muss vermutlich sagen: Endlich hat jemand dankenswerter auf Behandlungsfehler im Zusammenhang mit Entbindungen in der RoMed Klinik Wasserburg aufmerksam gemacht. Zwei Personen sollen laut Zeitungsartikel als Zeugen identifiziert und befragt worden sein. Bezeichnend ist weiter, dass eine ehemalige Mitarbeiterin sich an die Staatsanwaltschaft gewandt habe. Das lässt naturgemäß darauf schließen, dass man sich dort erst trauen konnte, auf Missstände hin zu weisen, als endlich Sanktionen von Vorgesetzte oder Repressalien anderer Art nicht mehr gefürchtet werden mussten. Daher auch der anonyme Hinweis. Es heißt aber auch: Anonyme Hinweise können Ermittlungen anstoßen, wenn sich nur jemand aufrafft.
Im vorliegenden Fall herrscht wohl eindeutig Konsens über die schlechten Zustände: Die Aussagen dieser Zeugen hätten die Vorwürfe aus der anonymen Anzeige größtenteils bestätigt, hießt es nämlich. „Dies und die beträchtliche sachliche Qualität und der schlüssige Tatsachenvortrag der anonymen Anzeige führten zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens”, wird die ermittelnde Instanz weiter zitiert. Das Ganze könnte sich ausweiten, denn seit Anfang August sollen in den Räumlichkeiten der RoMed-Kliniken in Rosenheim und Wasserburg bei den Durchsuchungen immerhin rund 200 Patientenakten sichergestellt worden sein. Die Verantwortlichen der Klinik hätten sich „äußerst kooperativ“ verhalten.
Was erfahren wir noch? Es reicht eine ideologisch verbohrte Person, um über lange Zeit in einer Klinik wahrscheinlich viel zu vielen werdenden Müttern Schaden zuzufügen. Wenn jemand partout meint, der Kaiserschnitt sei nicht gut, dann werden er oder sie Schwangere durch natürliche Geburten jagen – egal, welche Schäden ihnen drohen. Wichtig ebenfalls – der Zeitraum: Bereits seit anderthalb Jahren gab es Vorwürfe. Wie lange davor passierte schon Schlimmes, bis überhaupt Vorwürfe formuliert worden sind? Und warum wurde dann das gefahrvolle Handeln nicht früher unterbunden.
Was folgt daraus? Wenn Schwangere, ihre Verwandten oder Freunde von wem auch immer erfahren, das die Klinikpolitik, ein Chefarzt oder die leitende Hebamme ganz gegen Kaiserschnitte eingestellt sind, dann gilt es aufzuhorchen, sich weiter zu erkundigen – und notfalls anzusprechen, was man befürchten muss. Offenheit schafft Transparenz und bringt das Klinikpersonal / die Verantwortlichen in Hab-Acht-Stellung. Sie wissen dann, hier sieht jemand genau hin, welche Strategien bei einer Geburt verfolgt werden. Denn wer im Falle von schon kursierenden Gerüchten noch fälschlich vertrauensvoll in solch eine Klinik geht, muss man damit rechnen, dass ohne Warnung die Hauspolitik – wer immer die bestimmt und durchsetzt, ob ein Vorgesetzter oder viele gemeinsam – gegen die Interessen von Mutter und Kind durchgezogen wird. Der Untersuchungsausschuss zum Morecambe Bay Skandal in England hat aufgedeckt, dass in diesem Fall systematisch eine Truppe von Hebammen – genannt “die Musketiere” – eine rigorose Verweigerung von Kaiserschnitten über lange Zeit durchsetzen konnte. Ob Wasserburg oder Traunstein in Deutschland irgendwann als Name für einen ähnlich bedeutsamen geburtshilflichen Skandal stehen werden und aufgrund dessen auch in Deutschland bei den erklärten Kaiserschnittgegnern ein Umdenken einsetzt, wird sich weisen. Wenn das der positive Effekt dieser anonymen Anzeige wäre, wenn diese Anzeige so zum Ausgangspunkt für eine Debatte über offenbar immer noch unzureichend geschützte Schwangere, werdende Mütter und Kinder würde, hätte es sein Gutes, dass wenn auch spät der Finger in die Wunde gelegt worden ist.
Die betroffenen Familien sollten sich rechtlichen Beistand holen. Zahlreiche Patienten-Anwälte und -Anwältinnen wissen inzwischen um die Bedeutung der Verweigerung einer rettenden Operation, die allen Beteiligten hätte Leid ersparen können. Wer versehrt worden ist, verdient Schmerzensgeld, womöglich Schadensersatz und alle mögliche finanzielle Unterstützung. Geld kann das Geschehene nicht wieder gut machen. Aber es hilft, die womöglich vielfältigen medizinischen Maßnahmen, die notwendig werden, zu unterstützen.
Quellen:
Süddeutsche Zeitung: https://sz.de/lux.X6mbJoRiLL2LWEwjb6wuAX / https://www.mainwelle.de/durchsuchungen-in-klinik-ermittlungen-gegen-aerztin-954072/ / Blogbeitrag in diesem Forum: https://geburtsrisiken.de/2022/02/22/ein-dogma-faellt-in-england-gibt-es-keine-obergrenze-mehr-fuer-kaiserschnitte/#more-1336 / https://www.aerzteblatt.de/archiv/207813/Geburtshilfe-Die-Sectiorate-zu-senken-ist-schwierig